Im Mai 2016 bin ich abgereist, um in Georgia meinen Bruder Fritz und meine Schwägerin Helen zu besuchen. Fritz ist seit seinem Studiumsende in USA. Er liebt dort das freiere Leben und die größeren Möglichkeiten, in unberührter Natur zu leben. Das hat er sich erarbeitet durch all die Jahre seiner Berufstätigkeit als Manager eines mittelgroßen Werkes, währenddessen Helen den Boden bereitet hat und durch das Urbarmachen eines wunderschönen Stücks Wildnis.
Fritz und Helen leben in einem viktorianischen Haus, das sie 1992 aus Elberton, Georgia gekauft, in vier Teile geteilt und bei Watkinsville, Georgia, wieder aufgebaut haben, mit neuem Keller und Fußböden und Schornstein. Ich kannte ihr Anwesen schon vorher. Da wohnten sie und ich als ihr Gast – in einem „Trailer“, der sehr einfach, aber auch sehr gemütlich war. Bei meinem ersten Besuch hatten sie schon einen Weg vom Highway No. 54 zu ihrem Grundstück gelegt. Es gab schon Strom und ein Brunnenhäuschen. Später kam ein „Gazebo“ (eine Art Teehäuschen) dazu und ein Schild „Jasmine Terrace“. Es wurde dann kein Jasmin, sondern inzwischen prachtvoll herangewachsene Magnolien. Die 100 acres Land waren Weide und Wald, von dem etliches gerodet wurde in einer Form, daß sich landschaftlichen Ausblicke vom zukünftigen Haus aus wie in einem englischen Park boten. Natürlich gab es einen Stall und eine Scheune (von Fritz gebaut) für die drei Pferde (zwei Quarter Horses und ein Araber) und einen herrlichen See (ebenfalls natürlich selbst ausgehoben und angelegt) mit einem kleinen Laufsteg und einem überdachten Platz über der Wasserfläche zum Fischen, für Picknicks usw. In der Nähe, unter Büschen und Unterholz verborgen, waren die Reste eines ehemaligen Farmhauses, ein aus Holz bestehendes halb zerfallenes Haus, in dem alljährlich eine wilde Truthahnhenne brütet. Weiter weg war ein anderes ehemaliges Gehöft, von dem nur noch die Reste des steinernen Kamins standen. Und es gab die kläglichen Überbleibsel eines Friedhofs. Wer hier mal gelebt hat oder begraben ist, konnte uns niemand sagen.
Rund um das Haus, das dann 1992 in dieser Landschaft wieder aufgebaut wurde, sind Bäume, Büsche und Sträucher in loser Anordnung, weiter weg ein „orchard“ mit Weinstöcken und Blaubeerbüschen (den amerikanischen, hochstämmigen) und ein riesiger, gegen Wildverbiß eingezäunter Hausgarten mit jeder Menge Gemüse und Blumen – Helen ist schließlich Farmerstochter. Ein Paradies, das jeden Tag neu erobert werden will gegen die Kraft der umgebenden Natur.
Auswandern, Deutschland verlassen, hat mit meinem Vater begonnen. 1928 ist er mit seiner jungen Frau – meiner Mutter – nach Namibia gegangen. Daß er 1945 Schlesien verließ, war nicht freiwillig und geschah durch die Vertreibung der Deutschen aus dem deutschen Osten. Aber daß er in den 50er Jahren Deutschland für ganz verließ und als Entwickler nach Afghanistan ging und von dort aus dann als Farmer sich in Kanada ansiedelte, war endgültig. Fritz, mein Bruder – hatte er diesen Drang in die Ferne geerbt? Seine Zeit als Praktikant während des Studiums verbrachte er in Ägypten. Reisen, reisen – das tat er lebenslänglich. Aber daß er tatsächlich nach USA auswanderte….
Und ich: Reisen in die weite Welt war gleichermaßen faszinierend für mich. Deshalb auch die Berufswahl als Dozentin des Goethe-Insituts, das mir und meiner Familie die Gelegenheit bot, in anderen Welten zu leben; die am stärksten „andere“ Welt erlebten wir in Pakistan, wo wir 6 Jahre lebten. Aber wir kehrten doch immer wieder nach Deutschland zurück.
Mit meinem Bruder habe ich eine sehr enge Verbindung. Leider liegt ein großer Ozean zwischen uns, der das Zusammensein schwierig bzw. kostspielig macht. Das Kinderbild von ihm, 1944 noch in Schlesien von einem Berliner Maler gemalt, hängt über meinem Schreibtisch.
Fritz und Helen sind in einer „writers‘ guild“. Bei jedem Treffen muss jeder Teilnehmer etwas, was er geschrieben hat, vorlesen. Bei Fritz sind es immer Geschichten aus seiner und meiner schlesischen Kindheit. So bleibt wohl bei jedem Auswanderer ein Stück Herz zurück an dem Ort, von dem er kommt.