Beitrag von Marina von Halem, geb. von Richthofen
Ende Januar 1945 verließen meine Eltern Heinz und Gabriele v. Richthofen mit uns drei Kindern Karin, Fritz und mir, Marina, und zwei Nachbarsfamilien, deren Männer im Kriegseinsatz waren, das elterliche Gut in Plohe, Kreis Strehlen in Niederschlesien. Fluchtberichte sind ja inzwischen viele geschrieben worden. Der schöne Fernsehfilm „Flucht“ beschreibt die Situation auch unserer Familien sehr gut. Die Odyssee mit Pferden und Wagen führte uns durch das Sudetenland über die Oberpfalz und in die Rhön, wo wir eine zeitlang in einem verlassenen, ehemaligen Reichsarbeitsdienstlager hausten, in einer Baracke ohne Fenster und Türen. Später bezogen wir das deutlich bequemere ehemalige „Führerhäuschen“.
Von Schlesien aus hatte mein Vater die „Rhön-Kräuter-Kultur“ gegründet. Seine Interessen hatten schon in Schlesien dem Kräuteranbau, ihrer Trocknung und Verwertung gegolten. Keine Ahnung, welche Vision ihm in Schlesien dieses mögliche Standbein in der Rhön aufgezeigt hatte. Wir Kinder wurden mit Säcken losgeschickt und hatten Arnika, Johanniskraut und Kamille zu sammeln. Auch für den mageren Speisezettel sammelten wir alles Mögliche: Bucheckern im rostbraunen Laub des Buchenwaldes, Pilze natürlich – es gab sie in diesem Jahr besonders reichlich.
Bald danach zogen wir nach Mittelfranken, wo mein Vater 1946 einen einsam gelegenen, alten fränkischen Hof in der Nähe von Scheinfeld, den Waldhof, gefunden und gepachtet hatte. Eine „Idylle“: ein typisch fränkischer Vierseithof, das Wohnhaus mit angebautem Stall ein Fachwerkbau, das Backhäuschen unter der Kastanie und einer haushohen Heckenrose, ein Stall im rechten Winkel, dem Wohnhaus gegenüber der Schafstall, dahinter ein Teich für Enten und Gänse, dann die Brücke über den Bach als Zufahrtsweg für den Hof, wieder im rechten Winkel die Scheune. Alles recht verlottert (eben „idyllisch“). Kein elektrisches Licht im Haus, kein Wasser. Das musste für Mensch und Tier vom Brunnen im Hof geholt werden. Ein Leben, genau genommen in Armut mit dem Makel der Armut.
Die Brücken zur Vergangenheit, zum Lebensstil einer landgesessenen adeligen Familie in Schlesien mit langer Tradition und großer Heimatliebe waren durch den Krieg abgebrochen. Ein ganz neues Leben musste beginnen, wie es auch Millionen von anderen Flüchtlingen dieser Zeit auferlegt war. „Wir haben alles verloren“ war ein Satz, den 6 Millionen Flüchtlinge damals aussprachen. Aber wir waren mit dem Leben davongekommen (das war ja nicht selbstverständlich), wir durften aufatmen, wir hatten ein Dach über dem Kopf, und irgendwie, von irgendwoher, auch Essen für alle (zum Beispiel waren die Pferde unseres Trecks, sofern sie den Treck überlebt hatten, gegen Naturalien verliehen). Aus ergatterten Wolldecken des Reichsarbeitsdienstes kriegten wir Kinder Hosen, die Schwester meiner Mutter schickte aus Ostafrika Stoffe, aus denen meine Mutter Kleider für uns Kinder nähte. Wer aufatmete, das waren nicht so sehr „wir“, sondern die Eltern. Wir Kinder konnten die Zusammenhänge noch nicht verstehen und nahmen das Leben, wie Kinder das eben tun.
Zu uns zog alsbald Tante Sibylle, die Schwester meines Vaters mit ihren vier Kindern und unsere Großmutter Richthofen. Tante Sibylles Mann Harald war vermisst in Russland geblieben. Es folgte „Neußchen“ (Walter Neuß aus Deutsch-Südwestafrika, heute Namibia), der „große Fritz“ (Fritz Richthofen aus Boguslawitz, Schlesien), Tante Wechen, die Schwester meiner Mutter, eine Siebenbürger Familie, Marthel, unsere Köchin aus Plohe, und Hella, ehemals dortige Landarbeiterin aus alten Zeiten. Eine für uns Kinder fröhliche, belebende Gemeinschaft – für uns war der Waldhof sowieso ein Eldorado. Keiner der Erwachsenen jammerte; Jeder war froh, irgendwie untergekommen zu sein, das Wohnhaus war groß. Im ersten Stock wohnten Tante Sibylle mit Kindern und der Großmutter, in den Mansardenzimmern unter dem Dach Fritz, Karin und ich, in dem Seitenteil über dem Stallteil alle weiteren Menschen. Ein „Dach über dem Kopf“ war das Wichtigste, das man brauchte, war Symbol für Überlebenschance.
Für meinen Vater bestand die gewaltige Aufgabe darin, wie man so viele Menschen auch noch ernährt. Abends saß er in seinem Zimmer (genannt „der Bunker“) und machte Pläne. Es wurde natürlich normale Landwirtschaft betrieben mit Kühen, Pferden, Geflügel und Ackerland (keine Schafe – die gab es ja in Schlesien auch nicht; So vieles wurde immer wieder mit Schlesien verglichen), und mein Vater machte Verträge mit einer Saatzuchtfima, es wurden Stiefmütterchen und allerlei Sonderkulturen angesäht. (Es gab schließlich genügend Kinder, die die winzigen Samen ernten konnten; Kinderarbeit kostete nichts und war meinem Vater für die Kindererziehung, die spartanisch zu sein hatte, wichtig). Die Frauen: Tante Sibylle und meine Mutter arbeiteten unverdrossen auf dem Hof, im Stall, bei der Geflügelaufzucht, auf dem Feld – Dinge, die sie früher nie getan hatten. (Ihr Leben hatte aus Kindererziehung, Hauswirtschaft, Personal betreuen, Garten kultivieren, gesellschaflliche Kontakte zu Nachbarn und Verwandten pflegen, Jagdessen ausrichten etc. bestanden).
Wäre die ganze Hof-Gemeinschaft nicht so fröhlich gewesen – ich weiß nicht, wie sie mit diesem Leben zurechtgekommen wären. Tante Sibylle arbeitete tatkräftig in der Feldwirtschaft und im Stall. Meine Mutter hatte ja schon auf der Flucht als Führerin eines Pferdegespanns und Quartiermacherin ihre Kräfte bewiesen. Aber Kühe melken – das war die einzige Tätigkeit, die sie kategorisch ablehnte. Mit ewig nassem Feuerholz kochte sie für die große Menschenzahl, zog die Putenküken mit gehackten Brennesseln und hartgekochten Eiern auf, bepflanzte den Garten, backte Brot und betreute die Kinder, die morgens um 6 Uhr, mit Mehlsuppe beköstigt Pferd und Wagen anspannten und zur Schule in das 12 km entfernte Scheinfeld fuhren: Karin, Fritz, Maritta, Ines und ich. Karin oder Fritz chauffierten. Karl-Friedrich und Heidi waren noch klein. Karl-Friedrich, sechs Jahre alt, musste allein zu Fuß 4 km durch den Wald in die Grundschule nach Ziegenbach laufen. Heidi war die kleinste. Wir Größeren banden sie beim nachmittaglichen Indianerspiel so manches mal an den Marterpfahl (der Wald begann ja gleich hinter dem Haus), und irgendwann machten wir sie auch wieder los. Die ständig besorgte Großmutter wusste ja nichts von unseren wilden Spielen (ich bin sicher, es hat Heidi ertüchtigt zu der tollen Person, die sie wurde).
Als Edith v. Wangenheim, Tante Sibylles ehemalige Haustochter zu uns stieß, wurde es lustig. Sie brachte ein Schifferklavier mit. Am Samstag abend wurde die Küche ausgeräumt und zum Tanz aufgespielt. Nachbarburschen der Umgebung kamen erwartungsvoll, aber etwas überfragt ob dieser bunten, gar nicht so traditionell bäurischen Gesellschaft dazu. Es gab Fettbrote und den von meinem Vater (schwarz)gebrannten Kartoffelschnaps.
Besucher kamen. Sie wurden gastlich aufgenommen. Wir Kinder mussten (ich würde sagen „durften“) auf den Heuboden, um ihnen unsere Betten freizugeben); Verwandte, Freunde und Nachbarn aus Schlesien – man hatte sich ja endlich wiedergefunden. Auch zufällig des Weges gekommene ausländische Gäste, davon zeugt das Gästebuch der Eltern.
Wir Kinder hatten in dieser frühen Zeit alle Freiheiten von elterlicher Aufsicht, die mit dem Überleben und Verarbeiten des Alltags Wichtigeres zu tun hatten. Ines und ich, genannt die „Ponies“, mussten vor der Gymnasialzeit nicht in die Gundschule gehen, die war zu weit entfernt, aber mit der Hilfe eines Pastors, der einmal in der Woche zu uns kam und uns unterrichterte, wurden wir trotzdem in die erste Klasse des Scheinfelder Gynmasiuims aufgenomen. Vielerlei Unsinn fiel uns ein. Ansonsten peppelte ich Wildhasen auf, die uns vom Heumähen gebracht wurden, züchtete Hasen, auch Mäuse, die ich in Lebendfallen gefangen hatte, und korrespondierte mit Paul Eipper, einem damals bekannten Tier-Autor. Fritz zog ein Rehkitz auf, und später hatte er zwei Bussarde in einer selbstgebauten Voliere.
Mittlerweile hatten Tante Sibylle und unsere Vettern und Kusinen und die Großmutter uns verlassen. Auf einer Siedlungsstelle in Wuppertal-Vohwinkel baute Tante Sibylle unter besonderer Mithilfe ihrer Tochter Maritta ein Haus für die Familie. Ihr Mann Harald kam nicht mehr aus dem Krieg zurück, er musste für tot erklärt werden, und Tante Sibylle musste ihre Familie ohne männliche Unterstützung großziehen.
Nur noch wir drei Geschwister besuchten also das Scheinfelder Gymnasium. Es war ein mühsamer Schulweg: anfangs mit Pferd und Wagen, dann, als man zu einem Fahrrad gekommen war, mit dem Fahrrad. Später lebte jeder von uns in Scheinfeld in einem gemieteten Zimmerchen. Ich beköstigte Fritz und mich mit den von zu Hause mitgenommenen Resten. Karin gehörte zu den ersten deutschen Schülerinnen, die durch den Rotary Field Service ein Jahr nach USA fahren und in einer amerikanischen Familie leben und in die Schule gehen durfte. Der Hauch der großen, internationalen Welt zog durch ihre Berichte bei uns ein.
Einige Dinge, die das Leben von Flüchtlingen zur Qual machen, blieben uns erspart: wir haben bei allen Einschränkungen unseres Lebens auf dem Waldhof nie gehungert, wir waren immer unabhängig und mussten nicht anderen Menschen zur Last fallen. Wir durften teilen, was es gab. Wir mussten nicht betteln, und wir wurden nicht gedemütigt. Kinderarbeit war normal; wir durften in die Schule gehen und später studieren aus Mitteln des „Lastenausgleichs“ für Kriegsgeschädigte.
Bis 1956 – das Jahr, in dem ich als die Jüngste das Abitur gemacht hatte, rackerten sich meine Eltern zugunsten von uns Kindern auf dem ärmlichen Hof ab. Dann wurde der Hof aufgegeben, die fünfköpfige Familie zerstob: wir Kinder strebten zum Studium, mein Vater versuchte sein Glück als Entwicklungshelfer in Afghanistan, meine Mutter hatte das schwerste und traurigste Los – sie war „übriggeblieben“, fand aber später bei Familie Peill auf dem Reiterhof und dann bei mir in Zeilitzheim nach so vielen harten Jahren ein ihr gemäßes Leben. Ein sehr enger Zusammenhalt zwischen uns allen blieb erhalten, auch zu der Familie von Tante Sibylle. Familienzusammenhalt war ein Zauberwort, das die Richthofens noch immer beseelt.
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